Stefano Ciurnelli, Ingenieur und Mobilitätsexperte aus Perugia hat sich ganz dem Thema der Mobilität verschrieben. Er berät Gemeinden und Regionen bei dieser komplexen Fragestellung, so auch das Land Südtirol und seit gut einem Jahr unsere Gemeinde. Wir haben ihn dazu befragt.
Herr Ing. Ciurnelli, Mobilität betrifft uns alle. Jede/r von uns muss sich fortbewegen, mit dem Auto, mit dem Rad, mit den öffentlichen Verkehrsmittel oder zu Fuß. Sie sind Experte für das Thema, was fasziniert Sie am Thema und mit welcher Grundhaltung nähern Sie sich dem Thema?
Meine Leidenschaft für die Mobilität reicht weit zurück. Ich hatte einen Großvater, der Bahnhofsvorsteher war, und er nahm mich einmal in der Woche mit zum Bahnhof. Die Eisenbahn war für mich, wie für viele andere Kinder, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geboren wurden, das Tor zur faszinierenden Welt der Mobilität und des Transports. Mobilität ist der Wunsch zu entdecken, zu lernen, Beziehungen zu knüpfen... Das Leben hat mir erlaubt, aus einer Kindheitsleidenschaft einen Beruf zu machen. Eine berufliche Tätigkeit, die ich als Dienst an der Gemeinschaft betrachte und die ich auch heute noch mit Neugier lebe – geleitet vom Wunsch, Ziele und Lösungen mit den Menschen vor Ort zu teilen. Und das immer im Bewusstsein, dass es keine fertigen oder allgemeingültige Rezepte zur Lösung der Probleme gibt.
Veränderungen im Bereich der Mobilität sind oft mit Sorge, Skepsis und auch mit Angst verbunden. Aus ihrer Erfahrung mit vielen anderen Gemeinden und Regionen, auch mit dem Land Südtirol, was sind die zentralen Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Verbesserung der Mobilität?
Die Angst vor Veränderungen betrifft nicht nur den Bereich der Mobilität. Wir leben in einer Zeit, in der uns der Fortschritt grundsätzlich weiterhin fasziniert. Wir sind aber oft nur bereit, die eigenen Vorteile zu nutzen. Wir wollen dabei keine persönlichen Opfer bringen oder unserer Lebens- und Arbeitsstile nicht hinterfragen. Die Isolation, zu der uns Covid gezwungen hat, hat diese individualistische Haltung sicherlich verstärkt.
Dennoch gibt es immer wieder mutige und weitsichtige Entscheidungsträger, die angesichts von Umweltproblemen oder der zunehmenden Schwierigkeit, mit dem Autoverkehr umzugehen, Mobilitätslösungen suchen und finden. Die Vorteile der Erhöhung der Effizienz der Mobilität und die Steigerung der Lebensqualität in Ortschaften sind offensichtlich. Das wird im Laufe der Zeit auch die Skeptiker überzeugen. Um diesen Wandel zu beschleunigen, braucht es das Bewusstsein für das Thema und den Wunsch nach einer gemeinsamen Lösungsfindung. Dafür müssen alle Bevölkerungsgruppen und die Wirtschaftsakteure einbezogen werden.
Der Mobilitätsplan der Provinz Bozen zielt auf Nachhaltigkeit. Was bedeutet das?
Der Klimaplan Südtirol 2040 und der Landesmobilitätsplan 2035 der Provinz Bozen legen einen präzisen und ehrgeizigen Rahmen fest, um die Mobilität der Zukunft nachhaltig zu gestalten. Die grundlegende Strategie ist die Reduzierung der individuellen Mobilität mit dem privaten Auto - der Klimaplan strebt eine Reduzierung der Fahrstrecken mit dem privaten Auto um 40 % an! Dafür müssen effiziente Alternativen angeboten werden, die den unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnissen gerecht werden. Eine wichtige Errungenschaft in Südtirol ist der Südtirol Pass mit der Integration aller öffentlichen Verkehrsmittel (Züge, Busse, Seilbahnen). Es braucht nun aber örtliche Verbesserungen des Angebots als Alternative zum privaten Auto – so auch in Schenna. Dafür sind Investitionen in Infrastrukturen und Dienstleistungen für die geteilte Mobilität (Zug, Bus, Fahrrad und Fußgängerverkehr) erforderlich. In Schenna ist die Herausforderung angesichts der Struktur des Dorfes sicherlich kompliziert, aber wir können uns dieser Aufgabe nicht entziehen. Es genügt zu bedenken, dass laut Klimaplan des Landes bis 2040 mindestens 25 % der Touristen mit dem Zug nach Südtirol kommen. Diese müssen sich nach ihrer Ankunft problemlos und schnell ohne Auto fortbewegen können. Angesichts der touristischen Ausrichtung und der geografischen Lage von Schenna könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Versäumnisses, sich auf dieses Ziel vorzubereiten, sehr negativ sein.
Mobilität wird sehr oft aus der Sicht des Autofahrers diskutiert, auch in Schenna, was für den ländlichen Raum, in dem wir leben, verständlich ist. Wenn man aber bedenkt, dass in Südtirol 50 % der Autofahrer weniger als 5 km zurücklegen, scheinen Alternativen in vielen Fällen dennoch möglich, oder?
Das ist absolut entscheidend, sowohl für die Bevölkerung als auch für die Gäste. Dafür braucht Schenna eine Vision. Die schwierigste Herausforderung besteht darin, ein Konzept zu entwickeln, das mit den spezifischen Merkmalen und Bedürfnissen von Schenna vereinbar ist. Das genau ist die Aufgabe des Mobilitätsplans!
Sie beraten die Gemeinde Schenna seit über einem Jahr mit dem Ziel, einen Mobilitätsplan zu erarbeiten. Warum braucht Schenna einen Mobilitätsplan?
Zum einen ist die Erstellung des Plans eine gesetzliche Verpflichtung, die im Landesraumordnungsgesetz festgelegt ist. Grundlage dafür ist der Landesplan für nachhaltige Mobilität. Dieser sieht vor, dass Maßnahmen zur Nutzung des öffentlichen Verkehrs und zur aktiven Mobilität (zu Fuß und mit dem Fahrrad) in allen Gemeinden Priorität haben. Das wird auch bei der Vergabe von Fördermitteln eine große Rolle spielen. Die Erstellung des Plans ist daher nicht nur eine bürokratische Pflicht oder gar ein Luxus, sondern eine Übernahme von Verantwortung. Zum einen zum Schutz und für das Recht auf Mobilität für die schwächeren Bevölkerungsgruppen (Kinder und ältere Menschen), aber im Falle von Schenna auch für die touristische Wettbewerbsfähigkeit. In den nächsten zehn Jahren wird sich Schenna nämlich zwei zusätzlichen Herausforderungen stellen müssen, die gewichtige Auswirkungen auf die Mobilität haben: Erstens wird der Anteil der älteren Bevölkerung zunehmen, die weiterhin eigenständig und mobil bleiben möchte. Dies erfordert einen verstärkten und inklusiv zugänglichen öffentlichen Nahverkehr, der es allen ermöglicht, weiterhin eigenständig soziale Kontakte zu pflegen und Besorgungen zu erledigen. Zweitens werden die Erwartungen der Touristen, die aus Ländern kommen, in denen sich die Mobilitätsstile schnell ändern, zunehmend auf Schenna übertragen. Schenna muss in Puncto Qualität in der Nutzung des öffentlichen Raums und in der öffentlichen Mobilität mithalten. Diese Herausforderungen zu ignorieren, bedeutet, sich einem langsamen, aber unvermeidlichen Rückschritt zu verschreiben.
Wo sehen Sie für Schenna die größten Herausforderungen im Bereich der Mobilität?
Meiner Meinung nach dreht sich das zentrale Thema um die gemeinsame Nutzung des öffentlichen Raums und die Regeln für dessen Nutzung für alle Verkehrsteilnehmer (Fußgänger, Radfahrer, Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs, ansässige Autofahrer, Pendler und Touristen, landwirtschaftliche Fahrzeuge, Liefer- und Abholfahrzeuge). Sind keine klaren Regeln da, wird der Raum zwischen den Nutzern umkämpft, da jeder denkt, ihn nach Belieben nutzen zu können, ohne sich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern. Es ist klar, dass solche Regeln in einem Ort wie Schenna an die Jahreszeiten, die Wochentage und die Tageszeiten angepasst werden müssen - mit anderen Worten, sie müssen flexibel sein.
Wie haben Sie den bisher ihre Arbeit in Schenna erlebt?
Zunächst möchte ich mich bei allen für die Gastfreundschaft und die Geduld bedanken - angesichts der Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund meiner unzureichenden Kenntnisse der deutschen Sprache. Ich habe mich wie zu Hause gefühlt! Was den Inhalt betrifft, kann ich mit Sicherheit sagen, dass die Ergebnisse des bisher durchgeführten Beteiligungsprozesses meine Erwartungen und das durchschnittliche Niveau, an das ich gewöhnt bin, weit übertroffen haben. Alle beteiligten Personen haben Leidenschaft, Engagement und viele Ideen für den Mobilitätsplan eingebracht.
Welche Ziele soll sich Schenna setzen?
Wie gesagt sind Ausgangspunkt aller Überlegungen die erhobenen Mobilitätsdaten, die Anregungen aus den Treffen im Gemeinderat und mit Bürgern, Vereinen und Verbänden, sowie die Pläne des Landes.
Die Ablehnung der Seilbahn durch den Gemeinderat von Meran, wie sie im Landesplan für nachhaltige Mobilität vorgesehen war, hat uns gezwungen, nach alternativen Lösungen zu suchen. Diese sind unabhängig von der Seilbahn umsetzbar, aber dennoch mit ihrer möglichen zukünftigen Realisierung vereinbar. Zentraler Punkt ist die Stärkung des öffentlichen innerörtlichen Nahverkehrsnetzes. Verbindungen zwischen Schenna und den Ortsteilen und den Seilbahnen sollen gewährleistet werden. Ziel ist es, möglichst vielen Bewohnern als auch den Touristen zu ermöglichen, sich innerhalb des Gemeindegebiets ohne Auto fortzubewegen, sowie häufige Verbindungen nach Meran und zu den beiden Bahnhöfen der Stadt anzubieten, um auch für überregionale Fahrten Alternativen zum privaten Auto zu schaffen. Dieses neue Netzkonzept muss auch die Probleme lösen, die durch den Verkehr großer Busse im Dorfzentrum entstehen, um den Fußgängern mehr Raum zu geben. Ich erinnere daran, dass wir an den Tagen der Verkehrszählung (Mai 2023) auf etwa 5.000 Fußgängerbewegungen im Dorfzentrum gekommen sind. Der zweite Aspekt, der in enger Verbindung mit der Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs steht, ist die Fußgänger- und Radmobilität. Ich halte es für grundlegend, sichere Bereiche und Wege für Fußgänger und Radfahrer zu schaffen und zu verbessern - besonders in einer Gemeinde, deren Wirtschaft auf Tourismus und Landwirtschaft basiert. Es ist klar, dass man hier eine ausgewogene gemeinsame Lösung finden muss, die den Bedürfnissen dieser beiden wirtschaftlichen Säulen gerecht wird. Die neuen Vorschriften und verfügbaren Technologien ermöglichen es, adaptive Lösungen zu schaffen, und dies ist meiner Meinung nach der richtige Weg. Die Radmobilität erfordert außerdem eine bedeutende infrastrukturelle Investition, um Sicherheit und Schnelligkeit der Verbindungen mit dem Radwegenetz von Meran zu gewährleisten, insbesondere auf dem Abschnitt zwischen dem Ende der 30er-Zone und dem Lido, wo die Steigungen der Straße und die durchschnittliche Geschwindigkeit des Autoverkehrs den Bau eines Radwegs erforderlich machen.
Was wünschen Sie dem Dorf Schenna, den Verantwortlichen und den Bürgern der Gemeinde?
Ich wünsche Euch, dass Ihr gemeinsam eine Vision entwickelt. Die Verwaltungen haben meiner Meinung nach die Pflicht, eine solche Vision vorzuschlagen. Natürlich im Einklang mit den auf europäischer und regionaler Ebene festgelegten Vorgaben. Nur so wird es möglich sein, Unterstützung bei den nötigen Investitionen für die Umsetzung der Maßnahmen zu bekommen. Andererseits wird jede Vision ohne den Beitrag der Bürger, angefangen bei ihrer Bereitschaft zur Veränderung, bereits vor ihrer Geburt scheitern.